Brief an mich selbst
von Elaine, über Trost, Abschied vom Kinderwunsch, Heilsam, Selbstfürsorge
Es ist so. Es gibt die Elaine der guten Tage. Diese Elaine ist manchmal randvoll mit Glück, so dass sie platzen könnte. Das kommt nicht jeden Tag vor, aber es kommt vor. Und dann gibt es da die andere Elaine. Es ist die Elaine an den Tagen vor “den Tagen” und die Elaine an “den Tagen” selbst. Oder auch die Elaine der Trauerphase. Sie ist wesentlich weniger voll mit Glück. Sie kann traurig sein, deprimiert oder sogar hoffnungslos. Manchmal weiss sie, dass sie in ein paar Tagen wieder glücklich sein wird, aber manchmal scheint das völlig unmöglich. Kennt Ihr das auch?
Um die “andere Elaine” daran zu erinnern, dass sie eines Tages wieder die glückliche Elaine sein wird, habe ich beschlossen, hier eine Notiz an mich selbst zu hinterlassen. Für die Tage vor “den Tagen”. Und für “die Tage” selbst. Für Trauerphasen. Und überhaupt.
Liebe Elaine
Hmm, heute ist kein so guter Tag, gell? Du bist mit dem linken Fuss aufgestanden. Die Müsliflocken haben sich verselbstständigt, als du sie in die Schale geben wolltest. Du bist zu spät dran, obwohl du rechtzeitig aufgestanden bist, und zu allem Überfluss hast du jetzt auch noch dein Handy zu Hause vergessen.
Heute ist einfach alles doof, stimmt’s? Alles ärgert dich, alle nerven dich, und alles ist zu viel verlangt. Heute ist es besonders schlimm, dass du keine Kinder hast und keine haben wirst. Du siehst den Sinn gerade nicht mehr so sehr. Warum eigentlich klappt es bei allen anderen und bei dir nicht? Warum bekommen die jetzt schon ihr drittes Kind und du hast nicht ein einziges? Und überhaupt, warum gerade du?
Meine Liebe, nun will ich dir etwas sagen. Das ist deine Trauer. Das bist nicht du. Du bist nicht deine Trauer, auch wenn es sich so anfühlt. Vielleicht sind da auch noch ein paar Hormone mit im Spiel. Ja, die Welt ist gerade nicht sehr rosa. Alles schreit danach, dass du irgendwie ein Opfer bist. Der Umstände. Schliesslich kannst du ja nichts dafür, dass es so ist, wie es ist, und ist das nicht ungerecht?
Jetzt nimm dir mal eine Minute Zeit. Wenn du auf Arbeit bist, gehst du vielleicht kurz aufs Klo. Öffne das Fenster. Atme mal tief durch. Spür deine Füsse am Boden. Spür die Schuhe. Wie fühlen sie sich an? Lausche. Hörst du Vögel? Wie ist die Luft? Ist es kühl? Oder warm?
Meine Liebe. Ich verrate dir ein Geheimnis. Das Leben ist wunderschön. Und es ist hart. Ja, hart ist es auch. Du siehst gerade nur die harte Seite. Die gibt es auch. Aber sie ist nicht das Ganze. Wenn du zu Hause bist, dann geh nach draussen. Schau in den Himmel. Sieh zu, wie die Wolken vorüberziehen. Oder stell dich unter einen Baum und lege den Kopf in den Nacken. Beobachte das Wogen der Äste im Wind. Atme. Und sei lieb zu dir.
In einer Woche ist das Leben wieder schöner. Du weisst das. Wenn du zu Hause bist und dich zu nichts aufraffen kannst, nimm eine Dusche. Wasch dir die Haare. Oder lackiere deine Zehennägel. Und höre dabei Musik, die dir gefällt.
Wenn die Regel da ist und du Schmerzen hast, leg dich aufs Sofa. Gönn dir ein Buch. Lass dich versinken. Geniesse die Ruhe. Es wird besser. Du weisst es. Tief in dir drin. Es war schon hundertmal so. Und es ist hundertmal wieder besser geworden. Lass es vorübergehen. Atme. Du bist schön. Und du bist gut so, wie du bist.
Wenn der Druck in deiner Brust sich aufbaut und sich dir der Hals zuschnürt, lass die Tränen heraus. Lass sie fliessen. Sie erleichtern dich.
Sei geduldig. Mit dir und den anderen. Es kommt schon. Du machst das gut.
Deine “Elaine der guten Tage”
Foto: Elaine
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