Ein Mutanfall
von Elaine, über Leben, Selbstfürsorge, Musik, Sinn
Diesen Herbst wagte ich ein kleines Abenteuer. Ich tat etwas, was schon länger auf meiner Liste gestanden hatte: Ich flog nach New York! Ein Teil von mir hatte wissen wollen, wie es sein würde, durch Schluchten von Wolkenkratzern zu gehen, wollte sich der Erfahrung dieser geschäftigen Metropole aussetzen, über die ich schon so viel gelesen hatte.
Allerdings gab es da ein paar Hürden. Mein Mann, der der Umwelt zuliebe gar nicht mehr fliegen will, und ich hatten fünf Jahre lang keine Flugreisen mehr unternommen. Auch die Kollegen auf Arbeit verzichten grösstenteils darauf zu fliegen, was ich grundsätzlich gut finde! In diesem Umfeld überlegte ich mir jedoch dreimal, ob ich wirklich fliegen wollte.
Den Flug buchte ich im Februar, dem Tiefpunkt unserer Ehekrise, inmitten finanzieller Unsicherheiten. Mein Mann arbeitete zu dem Zeitpunkt enorm viel, verdiente aber herzlich wenig (was zum Glück inzwischen wieder besser ist). Jahrelang hatten wir günstige Ferien im Campinghüttchen der Schwiegereltern an einem Schweizer See verbringen dürfen. Die Zugreisen ins Ausland, die wir unternommen hatten, empfand ich als stressig, da ich diejenige bin, die unsere Ferien organisiert. Meist ging auf den Zugreisen im Ausland etwas schief. Zum Beispiel war auf der Reise nach Slowenien der Wagen, in dem unsere reservierten Plätze hätten sein sollen, gar nicht vorhanden oder wir landeten im Zug von Zürich nach Hamburg in einem 6er-Familien-Liegewagen- (mit Kleinkindern!) statt in einem 2er-Schlafwagenabteil. Das empfand ich nicht unbedingt als erholsam, und mein Mann ärgerte sich seinerseits jedes Mal darüber, wenn ich in Stress geriet. Keine gute Ausgangslage!
Da war ich nun also mit 45 und dachte: Ich bin einfach noch zu jung, um von nun an meine Ferien nur noch in der Schweiz zu verbringen! Dieses Gefühl des Eingeengt-Seins führte dazu, dass ich die Flucht nach vorne antrat, entgegen aller Befürchtungen. Ich fragte meinen Mann und teilte ihm meine Bedenken mit, und er meinte: “Tu’s”! Also tat ich es.
Mut steht immer im Zusammenhang mit gewissen Ängsten. War es eine gute Idee, diese Reise alleine zu unternehmen? Würde ich das überhaupt geniessen können? Wäre New York für eine allein reisende Frau nicht etwas gefährlich?
Ich kontaktierte eine Freundin von früher, die in den USA lebt, und nachdem sie freudig zugestimmt hatte, einige Tage mit mir zu verbringen, buchte ich für meine zweite Ferienwoche eine Führung durch Williamsburg. Ein paar Fixpunkte, so dachte ich mir, könnten nicht schaden. Ebenso fragte ich eine liebe Bloggerin, ob sie Lust hätte auf ein Treffen, da ich schon in ihrer Nähe sein würde. Und sie sagte zu!
Wenige Monate vor Reiseantritt wurde mir erst bewusst, dass die Präsidentschaftswahlen genau in diesen Zeitraum fallen würden, was mir noch zusätzlich Sorgen bereitete. Aber es war schon alles gebucht, der Flug und die Unterkünfte. Für die erste Woche hatte N. ein Zimmer in Manhattan ausgesucht, in der zweiten Woche entschied ich mich für eine günstigere Unterkunft, die etwas weniger zentral gelegen war. Interessanterweise fanden es meine Freunde und Ateliergefährtinnen alle toll, dass ich diese Reise wagen wollte. Sogar meine Eltern, von denen ich dieses Jahr nur wenig gehört hatte, nahmen rege Anteil.
So kam es, dass ich am 26. Oktober in ein Flugzeug stieg. Freudig-aufgeregt! Ich sollte es nicht bereuen.
Meine Freundin musste leider notfallmässig bereits am 28. November wieder abreisen, was mich im ersten Moment etwas stresste. Nach ein paar Tagen stellte ich aber fest, dass ich meine Ferien auch sehr gut alleine geniessen konnte! Ich besuchte zweimal das Theater, für welches N. bereits Karten organisiert hatte, ging mit ihrer Tochter, die in New York studiert, und deren Freundin ins Whitney Museum (die Tickets dafür waren ebenfalls schon bestellt), und lud sie anschliessend zum Essen ein. Wir waren alle drei tief bewegt von den Erfahrungen und Werken der schwarzen Künstler-Community und fanden die Ausstellung sehr gelungen! Das Treffen mit der Bloggerin Sarah und ihrem Mann ein paar Tage später wurde ebenfalls berührend und schön. Wir machten sogar einen kurzen Spaziergang am Strand von Long Island, so dass ich etwas Meeresluft atmen konnte.
Ich fuhr zudem mit dem Aufzug auf die Aussichtsplattform des Rockefeller Centers, schaute kurz beim Times Square und seinen blinkenden Werbeflächen vorbei, nahm eine Fähre, um die Freiheitsstatue vom Wasser aus zu sehen, und selbstverständlich besuchte ich das MoMA und das Metropolitan Museum. Dazwischen spazierte ich zur Erholung immer wieder durch den Central Park, der in den wunderbarsten Herbstfarben leuchtete, beobachtete die Eichhörnchen, den Blue Jay, der mit lauten Rufen auf sich aufmerksam machte, und lauschte dem Wind, der durch die trockenen Blätter raschelte. Ich hatte das prächtigste Wetter: fast jeden Tag Sonnenschein bei Temperaturen zwischen vier und achtundzwanzig (!) Grad.
Die Eindrücke prasselten nur so auf mich ein. Weder Skizzen- noch Tagebuch kamen zum Einsatz; da war einfach zu viel “Input”, um irgendwelchen “Output” zu generieren. Aber ich genoss alles sehr. Flanierte durch die Strassen von Brooklyn, lernte, in der Mikrowelle ein Spiegelei zu kochen, wie man eine amerikanische Tür von innen verriegelt, wie man U-Bahn fährt und sich dort am besten mit Gepäck bewegt. Vielleicht, nur vielleicht, kamen mir auf der Fähre im Hudson River und im Central Park die Tränen, weil ich es fast nicht glauben konnte, dort zu sein. Ich gewöhnte mich daran, in einem etwas ärmeren, aber zum Glück auch ruhigeren Quartier zu wohnen, und mich dort ebenfalls sicher zu fühlen. Ich staunte über die Vielfalt New Yorks, all die ethnischen Hintergründe, Kleidungsstile und Schichten. Die USA sind ein Land der Kontraste, das hat sich mir wieder bestätigt!
So bin ich zutiefst dankbar für diesen “Mutanfall”. Ich spüre, dass sich innerlich etwas verändert hat. Wenn ich es geschafft habe, alleine eine Reise nach New York zu unternehmen, werde ich wohl weitere mutige Schritte gehen können, was meine Zukunft und Ateliertätigkeit angeht?
Es ist auch schön, wieder zu Hause zu sein. Mein Mann überraschte mich damit, dass er mich mit dem Auto des Schwagers in aller Früh am Flughafen abholte. Gemeinsam frühstückten wir am Flughafen und fuhren dann zurück durch den Nebel.
Weitere Entdeckungen waren in diesem Herbst diese Playlist und diese hier. Zudem kann ich den Artikel “Wie finde ich Sinn?" aus der ZEIT empfehlen. Er stammt von den Autoren des Buches “Sinn finden”. Vielleicht ist das etwas für diejenigen, welche sich vertiefter mit dem Thema auseinandersetzen wollen?
Nun freue ich mich darauf, das Buch “How To Become A Successful Artist” zu lesen, welches ich im Museumsshop des MoMA erstanden habe, auf Herbstspaziergänge, duftenden Chai, Kürbis- und Pastinakensuppen und auf viel Kerzenlicht :-).
Und Ihr?
Wie war Euer Herbst bisher so?
Ich freue mich darauf, von Euch zu lesen.
Herzlich,
Eure Elaine
Foto: Elaine
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