Vom Aussen ins Innen
von Elaine, über Sabbatical, Selbstfürsorge, Gesellschaft
“Sie sind viel mehr bei sich selbst als am Anfang, als Sie zu mir kamen”, sagte meine Psychologin im Herbst zu mir. Und an Weihnachten meinte meine Mutter, es freue sie zu sehen, dass ich so sehr “in mir ruhe”.
Begonnen hatte es ganz anders.
Ich bin ein ziemlich “gspüriger” Mensch, wie wir hier in der Schweiz sagen. Durch meine Erziehung, die Schuljahre und auch die Zeit als Arbeitnehmerin habe ich mich quasi darauf spezialisiert, die Befindlichkeiten und Erwartungen anderer wahrzunehmen. Denn wenn ich gute Noten in der Schule haben wollte, musste ich verstehen, was der Lehrer von mir erwartete. Meine Mutter hatte oft viel zu tun, und so lernte ich schon als kleines Kind, dass es ihr half, wenn ich ihr Arbeiten abnahm. Je mehr Geschwister ich bekam (das Jüngste wurde geboren, als ich 14 war), desto weniger war ich selber Kind und desto mehr wurde ich zum kleinen Mütterchen.
“Sie ist eine Liebe” sagte mein Vater früher von mir. Heute empfinde ich das fast als Schimpfwort. Denn eine “Liebe” zu sein, heisst, immer zu tun, was von einem erwartet wird. Es bedeutet, nach den Wünschen und Bedürfnissen anderer zu leben. Ein Stück weit müssen wir das tun, denn wir sind soziale Wesen. Wir brauchen den Rückhalt unserer Familie und Freunde. Wir sind auf eine Arbeitsstelle angewiesen und müssen daher den Chef oder die Chefin zufriedenstellen. Und doch kann es so weit kommen, dass wir selbst gar nicht mehr wissen, welches eigentlich unsere eigenen Bedürfnisse sind.
Im Abschied vom Kinderwunsch begann ich mir gewisse Fragen zu stellen. Zum Beispiel: Wer bin ich und wer will ich sein? Ich musste ein bisschen suchen. Die Antworten kamen nicht automatisch. Und doch empfinde ich genau diesen Aspekt der Kinderlosigkeit heute als wertvoll. Dass ich mich selbst vermutlich besser kenne und mir leichter treu sein kann als viele meiner Freundinnen, die Kinder haben. Sie verfügen schlicht nicht über die Zeit, sich allzu sehr mit sich selbst zu beschäftigen! Die Bedürfnisse der Kinder haben Vorrang. Nicht bei allen ist dies gleich ausgeprägt, aber bei manchen nimmt dies fast schon erschreckende Ausmasse an.
Ich reduzierte mein Pensum auf 50% und machte berufsbegleitend eine gestalterische Ausbildung. Im Berufsleben war ich immer noch ziemlich fremdbestimmt. Sobald ich meinen Arbeitsort betrat, kümmerte ich mich um die Bedürfnisse anderer. Das hatte etwas sehr Befriedigendes. Ich arbeitete lange sehr gerne dort! Aber es bedeutete eben auch, ein Schmerzmittel zu nehmen, wenn ich Mensbeschwerden hatte, anstatt mir Ruhe zu gönnen. In den Jahren nach der Kinderwunschbehandlung bedeutete es, eine Tablette zu nehmen, um schlafen zu können, und Koffein zu konsumieren, um davon wieder einigermassen wach zu werden. Ich musste funktionieren. Und ich glaube, das geht ganz vielen so. Wir haben nicht oder nur bedingt den Luxus, auf unseren Körper zu hören.
Corona gab am Ende den Anstoss dazu, dass ich etwas verändern wollte. Hier habe ich ausführlicher darüber geschrieben, falls Ihr etwas nachlesen möchtet. Zum Glück hatten mein Mann und ich schon ein paar Jahre Geld für ein Sabbatical beiseite gelegt. Wir waren uns einig darin, dass die Zeit gekommen war, um es auch zu nutzen. Und somit darf ich nun auch diese Auszeit geniessen :-).
Entgegen aller Vorstellungen, wie “frei” sich das anfühlen würde, mochte mein Gehirn die Umstellung von der jahrelang befahrenen “Autobahn” auf neue Verknüpfungen und Gewohnheiten nicht besonders (siehe auch hier). Ganz so unbeschwert, wie alle in meinem Umfeld dachten, fühlte ich mich also nicht. Denn vieles war ja auch unsicher! Natürlich hatte ich viel mehr Zeit für die Dinge, die mir gut tun oder Spass machen (siehe hier). Und ich kam den Ursachen diverser Probleme auf die Spur. Ich setzte Medikamente ab und stellte die Ernährung um. Was sich lohnte: Ich bin das Sodbrennen losgeworden und habe kaum mehr Durchfall. Zudem komme ich während der Regel grösstenteils ohne Schmerzmittel aus, was für mich als Endometriosepatientin eine grosse Sache ist!
Schicht für Schicht kam ich mir selbst auf diese Weise näher. Zuerst fiel der Job weg, das grösste “Aussen”. Dann die Medikamente und für mich eher schädliche Lebensmittel wie Zucker und Milchprodukte. Ich fing an, in einem kleinen Frauenchor mitzusingen, was mir regelmässig eine Portion gute Laune verlieh. Auch wenn es mir zum Schluss mit den steigenden Infektionszahlen zu heikel wurde, so dass ich nicht mehr hinging, hat es sich für die Zeit, in der es mir Freude bereitete, absolut gelohnt. Ich weiss jetzt, dass ich nach der Pandemie definitiv in einen Chor will! Am Ende kam ich noch Kindheitstraumata auf die Spur, die im Nachhinein so einiges erklären. Lange hatte ich gespürt, dass da noch etwas war, hatte es aber nicht greifen können! Jetzt ist zwar noch nicht “alles gut”, aber diese neue Klarheit hilft, manches besser einordnen zu können.
Wenn jemand fragt, dann sage ich, dass nach aussen eigentlich nicht viel passiert ist in meinem Sabbatical. Innen jedoch sehr viel! Und das ist ganz wunderbar. Denn meine nächste Lebensphase möchte ich aus dem Innen heraus angehen. Weil ich glaube, dass dies das wahrhaftigste Leben ist, das ich führen kann. Und weil es vermutlich auch anderen Menschen um mich herum am meisten dient. Ich weiss, dass das nicht ganz so einfach sein wird. Gerade, weil wir so im Aussen trainiert sind und uns die Strategien für ein selbstbestimmtes Leben fehlen. Und doch möchte ich es versuchen!
Wie geht es Euch mit dem Aussen und dem Innen?
Foto: Elaine
NÄCHSTER ARTIKEL
Das grosse Schweigen
Um anonym zu kommentieren: Kommentar schreiben, Pseudonym und E-Mail in die Felder eintragen und bei "Ich möchte lieber als Gast schreiben" das Häkchen setzen.